Mehr Zeichen für Gerechtigkeit
Fühlen. Riechen. Schmecken. Sehen. Stille. Wie leben taube* Menschen in Tansania? Findet gelungene Inklusion im Bildungs- und Gesellschaftssystem statt? Eine Recherchereise über das Taubsein in Tansania und die damit verbundenen möglichen Hürden.

Es ist 14 Uhr am Nachmittag. Der Schulleiter Mr. Kheri schließt das „Juwalaza Vocational Training Center“ in Fuoni Mambosasa, Sansibar, auf. Hier lehren Mr. Kheri und weitere Lehrkräfte Zeichensprache und bilden Übersetzer_innen für Zeichensprache aus. Die Schule ist mit dem Ziel die tansanische Zeichensprache zu verbreiten und mehr Übersetzer_innen auszubilden aus der 2009 gegründeten Organisation „Zanzibar Association of Sign Language Interpreters“ entstanden. Dadurch, dass Mr. Kheris Mutter Lehrerin für die lokale Zeichensprache auf Sansibar war, hat er selbst bereits in seiner Kindheit viel Kontakt zu tauben Menschen gehabt. Zudem arbeitet er im staatlichen Krankenhaus auf Sansibar als Krankenpfleger und sieht dort täglich, wie schwer es taube Menschen haben, ihre Probleme zu äußern. Diese Erfahrungen motivierten ihn, die Zeichensprache zu lernen und sie nun auch weiterzugeben. Ihm ist es wichtig, dass taube Menschen an allen wichtigen Bereichen des Lebens, sei es in der Schule, im Krankenhaus, vor Gericht oder anderen Behörden, teilhaben können und nicht diskriminiert werden. Chancengerechtigkeit für alle Menschen.
Die Reise führt weiter nach Iringa zu der NGO „Neema Crafts“. Diese NGO bietet nicht nur Jobs für Menschen mit Behinderung an und lehrt Zeichensprache, sondern bildet sie auch im handwerklichen Bereich aus. Ihre Vision ist es, diesen Menschen eine Perspektive zu geben und Chancengerechtigkeit herzustellen. Denn Taubheit wird in vielen Familien oft als „Bestrafung Gottes“ angesehen, was den weiteren Lebensweg der betroffenen Personen bestimmt. Kinder werden von ihren Familien verstoßen, bekommen keinen Zugang zu (inklusiver) Bildung, sind finanziell benachteiligt und haben ein geringeres Ansehen in der Gesellschaft. Taube Menschen werden stigmatisiert. Ihnen werden Fähigkeiten abgesprochen und so Berufsperspektiven verschlossen. So berichtet Sergio, der taub geboren wurde: „Ich wurde als bubu, als eine Person, die andere Menschen missbraucht, beschimpft. Daher hat mich niemand eingestellt. Für viele Menschen sind wir nichts“. Ähnliche Erfahrungen macht Jane, die im Alter von 5 Jahren aufgrund von Schmerzen in Nacken und Rücken taub geworden ist: „Mir wurde nicht zugetraut eine gute Mutter zu sein, als ich mit meiner Tochter schwanger war. Mir wurde gesagt, dass ich meinem Kind nicht gerecht werden kann. Ich wurde auch gefragt, wie ich überhaupt schwanger werden konnte“. Ihr Mann wurde gefragt, warum er eine taube Frau geheiratet hat, wenn er doch auch eine hörende Frau hätte heiraten können.
Forderungen
Janes Forderung an die Regierung ist, dass ein großes Netzwerk an kostenlosen Übersetzer_innen aufgebaut wird. Sergio fordert, dass die tansanische Regierung mehr finanzielle Mittel zur Unterstützung tauber Menschen bereitstellen sollte. Kennedy, der seit dem 7. Lebensjahr taub ist, fügt hinzu, dass die Bedürfnisse und Rechte von Menschen mit Behinderungen durch einen offenen Austausch in der Gesellschaft sowie auf der Regierungsebene wahrgenommen werden müssen.
Aus diesem Grund gibt es ein Netzwerk an nationalen Organisationen, die sich für die Rechte tauber Menschen einsetzen mit der Vision einer starken, gut informierten und inklusiven Zivilgesesellschaft. Eine der größten und bekanntesten Organisationen ist „CHAVITA“ (Chama cha Viziwi Tanzania) mit Hauptsitz in Daressalam und regionalen Ansprechpartner_innen in ganz Tansania von tauben für taube Menschen. Es war auch CHAVITA, die eine einheitliche tansanische Zeichensprache aus allen lokalen Gebärdensprachen des Landes entwickelt hat. Ab 1993 wurde das erste Wörterbuch für die tansanische Zeichensprache herausgebracht. Sieben Jahre später führten zwei Spezialisten vom Festland die offizielle Zeichensprache auf Sansibar ein.
Die taube Community in Tansania ist mit ca. 425.000 Menschen von einer Gesamtbevölkerung von 58 Millionen im Vergleich zu Deutschland, wo lediglich, abhängig von der Definition, 80.000 Menschen als taub, schwerhörig oder gehörlos bezeichnet werden, sehr groß. Oftmals handelt es sich in Tansania um erworbene Taubheit durch einen Mangel an Gesundheitsversorgung bei Erkrankungen wie Meningokokken-Meningitis, Mittelohrentzündungen oder Masern in der frühen Kindheit.
Bildung als Schlüssel für soziale Teilhabe
1963 wurde die erste Schule für taube Menschen, das „Tabora Deaf-Mute Institute“, in Tabora gegründet. In den folgenden Jahrzehnten wurden immer mehr private Schulen für taube Menschen gegründet. Zwar haben europäische NGOs (EOTAS, TANZANEAR) in Kooperation mit der tansanischen Regierung kostenlose Bildungseinrichtungen aufgebaut. Jedoch besuchen laut Statistik nur 1% der tauben schulpflichtigen Kinder eine Schule.
So wie viele andere taube Menschen musste auch Jane die weiterführende Schule abbrechen, da sie die einzige taube Person in der Klasse war und die Lehrkräfte ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden konnten. Trotzdem konnte Jane durch ihre Ausbildung zur Schneiderin bei Neema Crafts einen Job finden. So schätzen alle interviewten Menschen das inklusive und bedürfnisorientierte Arbeitsklima bei Neema Crafts. Hier fühlen sie sich sicher und gesellschaftliche Vorurteile werden abgebaut.
In den letzten 30 Jahren hat sich die Situation für taube Menschen bereits deutlich verbessert. Es ist jedoch noch ein sehr langer Weg zu einer gerechten und barrierefreien Gesellschaft in Tansania. Organisationen wie die im Artikel genannten und Zeichenspracheschulen sowie Menschen, die sich für Gleichberechtigung und Menschenrechte einsetzen, ebnen diesen Weg maßgeblich, denn „Signs are to eyes what words are to ears“ (Ken Glickman, Autor von „Deaf Proverbs“).
*Die Autorinnen sind sich der verschiedenen Begriffe wie „taub“ und „gehörlos“ bewusst und haben sich nach eingehender Recherche für den Begriff „taub“ entschieden. Der Begriff „taubstumm“ ist historisch sehr negativ behaftet, weswegen dieser in dem Artikel keine Anwendung findet. „Gehörlos“ zeigt weiterhin einen Mangel, der auf anatomischer Ebene nicht vorliegt oder vorliegen muss. Taubstumm sagt man nicht! - nicht stumm! (nicht-stumm.de)
Dolmetscherin: Rayfat Kheir Ein großes Dankeschön an Rayfat Kheir, ohne deren Unterstützung dieser Artikel so nicht möglich gewesen wäre.
Quellenangabe:
- CHAVITA - Chama cha Viziwi Tanzania
- EOTAS Foundation | Giving Deaf Children a fair chance in life through quality Education
- Gehörlosigkeit - Ursachen, Symptome, Diagnose & Behandlung (gesundheitswissen.de)
- www.tanzanear.org
- Neema Crafts | Neema Crafts
- Taubheit: Informationen & Taubheit-Spezialisten (leading-medicine-guide.com)
- Taubstumm sagt man nicht! - nicht stumm! (nicht-stumm.de)
- United Republic of Tanzania - African Sign Languages Resource Center
- Wie viele gehörlose Menschen gibt es in Deutschland? | kobinet-nachrichten