Hier sein - über das Gefühl mittendrin zu sein

Nach zwei Monaten in Tansania kann ich gar nicht glauben, dass ich nun schon so lange in Tansania bin. Und doch gibt es Sachen von denen gesagt wird, dass man länger als ein Jahr braucht, um sie zu verstehen.

Abend in Daressalam Abend in Daressalam [Foto von Lukas Held, Copyright Lukas Held]

Man hört und liest so viel von Afrika. Ein "Land", in dem arme, hungernde Menschen leben, die unbedingt Hilfe brauchen. Hungersnöte, Dürren, ländliche Gebiete, in denen Viehhirten umherziehen. Frauen in Baströcken, die mit Trommeln um ein Lagerfeuer tanzen. Elefanten, Löwen, und Zebras, die durch die idyllische Savanne ziehen.

Schon so viel interessantes und abenteuerliches gehört und gelesen zu haben von diesem fernen "Land" und dann plötzlich dort zu sein, ist beeindruckend. Plötzlich kann man selbst reflektieren und sich ein eigenes Bild machen. Großstadt. Hochhäuser. Gestank. Märkte. Menschen, die mit einem Smartphone durch die Straßen laufen. Kleinbusse, deren Fahrer laut Passagiere anwerben. Grasgedeckte Hütten? Zu finden als Pavillon in Straßencafés. Löwen, Zebras, Elefanten? Wer die afrikanische Wildnis kennenlernen möchte muss einen hohen Eintrittspreis im Nationalpark zahlen. Afrika – in dem „hilfsbedürftigen Land“ leben Menschen, die ihren eigenen Kopf haben. Menschen, die sowohl Traditionen haben und gebildet sind. Es gibt Schulen, in denen der Unterricht auf Englisch stattfindet. Universitäten, Journalisten, Verwaltungsfachangestellte. Eine immer größer werdende Mittelschicht. Menschen mit Selbstbewusstsein, die andere Vorstellungen davon haben, wie die Dinge sein müssen als wir, die den Kontinent Afrika als Land abstempeln und damit überwiegend negative Konnotationen verbinden.

Natürlich dürfte den meisten Menschen inzwischen klar sein, dass es in Afrika eben nicht nur dünn besiedelte Steppen gibt. Wenn man einen ersten Blick auf die Kultur, die Geographie, das Verhalten der Menschen wirft, dann erscheint alles so, als wäre es völlig anders als hier. Das Klima, die Hautfarbe der Menschen, der Verkehr, die Vegetation. Wenn man genauer hinsieht, ist doch vieles gleich. Es ist eben doch eine Art der Zivilisation, wie wir sie aus Europa kennen. Der dritte Blick, wenn man vor hat, hier für ein ganzes Jahr zu leben, gibt Einblicke, die man vorher nicht hatte und zeigt, dass es doch einige Unterschiede zu Europa gibt. Vielleicht ist das ein Anfang eines ständigen auf und ab. Was in Europa von Tansania ankommt ist oft gefiltert und durch die Entwicklungshilfe-Brille betrachtet. Aber wie ist Tansania wirklich? Eine Frage, die sich nicht mit einem Artikel wie diesem beantworten lässt. Erzählt man von der einen Sache, muss man gleich die andere erwähnen, um den Leser nicht auf eine bestimmte Sache zu fixieren. Und manchmal werden Klischees auch bestätigt, auch wenn jedem klar sein sollte, dass Afrika nicht nur so ist wie oben beschrieben.

Ich nehme mal einen Tag aus den letzten Wochen heraus, von dem es sich am meisten lohnt zu erzählen. Ich bin mit einem Solartechniker in eine Gruppe von kleinen, abgelegenen Dörfern gefahren. Mpwapwa, die Stadt in der ich als weltwärts-Freiwilliger lebe, ist relativ klein, aber es ist eine Stadt. Aus diesem Grund war es für mich ein besonderes Erlebnis, die ländliche Seite Tansanias kennenzulernen.

Ich warte. Ob Boston wohl schon ohne mich losgefahren ist? Sein Handy ist abgeschaltet. Natürlich, er ist ja gerade auf dem Weg. Boston kommt. Ich frage ihn, ob er einen zweiten Helm für mich hat. Er verneint und gibt mir seinen. Wir fahren los, lassen Mpwapwa hinter uns. Der Fahrtwind weht uns um die Ohren. Wenn ich keinen Helm aufgehabt hätte, hätte ich Boston wahrscheinlich gebeten langsamer zu fahren. Die Straße gleicht einem Waschbrett, aber Bostons Motorrad ist gut gefedert. Was ich links und rechts sehe, ist das Klischee-Afrika. Weit und rot. Dicke, trockene Bäume, roter Sand, trockene Flussbetten. Wir passieren ein paar Furten. Mit dem Motorrad ist das kein Problem, ob ein Auto das schaffen würde weiß ich nicht.

Die Häuser von Kimagai sind aus Lehm und Holz und teilweise mit Ried oder Ähnlichem gedeckt. Die wenigsten haben einen Stromanschluss. Deswegen sind wir hier. Der Plan ist, die Dorfbewohner von der Nutzung der Solarenergie zu überzeugen. Denn bis der tansanische Energieanbieter TANESCO hier das Stromnetz erweitert hat, wird es noch Jahre dauern. Nun sollen die Einwohner von Kimagai und den umliegenden Dörfern ein Solarmodul mit Batterie, Laderegler und vielleicht auch Wechselrichter (Inverter) bekommen. Die Technik wird kostenlos zur Verfügung gestellt und die Nutzer zahlen pro Lampe und Woche, so wird die Anlage finanziert. Dieses Modell kann natürlich nicht beliebig oft angewendet werden, weil Nishati Afrika nicht beliebig viele Solarsysteme bezahlen kann. Deshalb untersucht Nishati Afrika demnächst Konzepte, bei denen Bürger von Dörfern selbst eine Art Bank einrichten, sogenannte VICOBA (Village Community Bank). Ein Bild dafür ist die Kiste mit mehreren Schlössern (Das ist nicht nur ein Modell, solche Kisten gibt es wirklich). Sie wird nur geöffnet, wenn alle Mitglieder der Gruppe anwesend sind. Dann wird protokolliert, wer wann was bezahlt hat und wer wem noch wieviel schuldet. Aus dem großen Topf wird das System (in diesem Fall die Solaranlage) bezahlt, gewartet und verwaltet.

Der Chef der Dorfgemeinde begrüßt uns und bringt uns zu einer Gruppe von Einwohnern, die sich bereits versammelt haben. Er stellt uns vor und Boston beginnt zu erzählen, von der Nutzung der Solarenergie, der Technik die dazu nötig ist, die Nachteile von Öllampen und der Energie von TANESCO. Dann fordert er mich auf, etwas zu erzählen. Ich frage „Was hast du denn noch nicht gesagt?“ – „Es geht darum, dass du nochmal betonst, was ich gesagt habe. Die Leute wollen deine Stimme hören.“ Ich stammle auf Kiswahili ein paar Sätze zusammen. Was ich mache, warum ich hier bin und was wir bei Nishati Afrika machen. Ich sage „unsere Energie ist da oben“ und deute in den Himmel. Die Leute sagen „die Sonne“.

Auf dem Weg ins nächste Dorf fahren wir durch eine beeindruckende Bilderbuchlandschaft. Als wir durch ein nicht ganz ausgetrocknetes Flussbett fahren, sehen wir, was passiert, wenn Wasser da ist. Alles um uns herum war grün. Also doch nicht alles rot-braun. Die Häuser in diesem Dorf stehen sehr weit auseinander. Ich soll die Leute in der lokalen Sprache begrüßen, denn Kiswahili ist ein Kompromiss und sozusagen eine Mittelsprache. Deswegen ist sie auch so einfach zu lernen, weil sie extra für die Verständigung der verschiedenen Völker Ostafrikas entwickelt wurde. Kiswahili ist zum Beispiel nicht die Muttersprache meiner Gastmama. Die Kinder in den Städten können die lokalen Sprachen aber meist nicht mehr. Ich habe den Eindruck, dass die Vielfalt der Völker eines der wichtigsten Merkmale Tansanias ist. Nachdem ich allen die Hand gegeben hatte, gehen wir in ein halbfertiges Gebäude. Ich durfte auf einem umgekehrten Eimer in der Mitte des Raumes Platz nehmen. Boston erzählte wieder über Nishati Afrika. Und mein Vortrag klappt wieder besser als beim letzten Mal. Eine Gruppe besuchen wir noch, dann fahren wir nach Hause. Neben uns geht die Sonne unter.

Was habe ich gelernt? Gesehen? Erlebt? Was lässt mich sagen „es war toll“? Ich weiß es nicht, wahrscheinlich waren es viele Sachen: Die Begegnung mit den Menschen, die Landschaft, das fremde was es in der Stadt nicht gibt. Habe ich etwas gelernt? Das werde ich wahrscheinlich später erfahren. Wie ich welchen Eindruck einordnen muss weiß ich noch nicht. Ich bin gespannt was noch kommen wird und denke „Hier ist Afrika.“ Dieser ferne, vielfach geschichten- und klischeeumspannte Kontinent. Hier ist Afrika, und ich mittendrin.

Jetzt bin ich hier.