Vom Menschen, der Ich gern wäre und dem, der Ich tatsächlich bin

Reisen kann etwas Wunderbares sein und zugleich kann es einem auch Abgründe aufzeigen. Gedanken aus meinem Leben in Boma Ngómbe, am Fuße des Kilimanjaros.

Blick vom Mount Meru auf den Kilimanjaro Blick vom Mount Meru auf den Kilimanjaro [Foto von Michael Heiss, Copyright Michael Heiss]

Reisen kann etwas Wunderbares sein und zugleich kann es einem auch Abgründe aufzeigen. Abgründe, von denen man nicht vermutet hat, dass sie in einem selbst existieren.

Durch meine Zeit hier in Tansania erfahre ich hautnah, was es bedeutet, fremd zu sein. Nicht nur fremd an einem Ort, an dem ich noch nie zuvor war. Fremd in einer anderen Kultur, in einem anderen Land mit anderer Sprache, auf einem anderen Kontinent. Mehr Fremde ist schwer zu finden. Nicht nur das Ichselbst weiß, dass ich hier fremd bin, auch ist es für jeden Menschen offensichtlich, dass ich nicht von hier komme, offensichtlich für jedermann an der Hautfarbe zu erkennen. Dieses Gefühl erleben derzeit hunderttausende Menschen in Deutschland, welche aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in Deutschland Schutz suchen. Ich habe mich im Gegensatz zu diesen Menschen freiwillig für die Fremde entschieden. Meine Heimat existiert noch so, wie ich sie verlassen habe, und ich kann in mein altes Leben zurückkehren.

Mit diesem Gedanken kann Fremde etwas unglaublich Schönes sein. Ein Auslandsjahr bietet die grandios Möglichkeit, seinen eigenen Blickwinkel auf die Welt und sich selbst noch einmal neu einzustellen. In Deutschland habe ich mir meine eigene kleine Komfortzone geschaffen. Ich habe meine Freunde, mit meiner Familie verstehe ich mich super, ich weiß, bei welchem Bäcker ich im Ort die besten Semmeln bekomme und bei welchen Nachbarn im Herbst die besten Äpfel wachsen. Man lebt in seiner eigenen kleinen Blase, in der es für fast jedes Problem auch eine Lösung gibt. Die Fremde nimmt dies alles. Die Fremde verlangt Vertrauen in seine Mitmenschen. Die Fremde zeigt schonungslos, wer man selbst ist.

Seit ich Deutschland verlassen habe und nun selbst fremd in einem anderen Land bin, stellen sich mir immer wieder zwei Fragen. Bin ich eigentlich der weltoffene Mensch ohne Vorurteile als den ich mich so gern sehe oder gibt es nicht doch auch in meinem Herzen ein paar dunkle Ecken und sind wir als deutsche Gesellschaft so weltoffen, wie wir uns gerne sehen? In Tansania habe ich bisher nichts über einen öffentlichen Diskurs über Integrationspolitik mitbekommen und doch laden einen wildfremde Menschen zum Tee oder Kaffee ein. Menschen die wesentlich weniger besitzen als ich, laden mich zum Essen ein. Gastfreundschaft ist hier ein greifbares Gut! Dies ist eine unglaublich bereichernde Erfahrung.

Und doch kommt in diesem Momenten ein leichtes Zwicken in der Herzgegend und es schwirrt die Frage im Kopf: Handle ich, der ich mich ja so gerne als weltoffener Mensch sehe, in Deutschland auch so? Ich bin stolz darauf, dass Deutschland damals die Entscheidung getroffen hat die Grenzen zu öffnen und doch bezweifle ich, dass wir, obwohl wir in einer Überflussgesellschaft leben, unseren Gästen ein Gefühl von Gastfreundschaft vermitteln. Menschen, welche ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben. Menschen, für die es kein einfaches Zurück wie für mich gibt. Hier muss ich mich auch selbst fragen: Wie oft habe ich mit einem offensichtlich Fremden in unserem Land ein Gespräch angefangen, um auch ein Gefühl von Gastfreundschaft entstehen zu lassen? Was habe ich dazu beigetragen, dass Menschen sich in Deutschland so willkommen fühlen wie ich mich hier in Tansania?

Auch sehe ich mich sich selbst immer gerne als aufgeklärten Menschen ohne Vorurteile. In der Fremde wird dies knallhart auf die Probe gestellt. An manchen Tagen vermute ich hinter jeder Berührung im Bus einen Diebstahl. Oft der Gedanke, wenn mich jemand anspricht: möchte er Geld von mir? Würde ich diese Gedanken auch bei einem Menschen mit weißer Hautfarbe haben oder liegt es an der schwarzen Hautfarbe des Gegenübers?

Vorurteile reichen von, “jeder will mir etwas klauen“ bis zu, „alle Afrikaner sind glücklich, obwohl sie nichts haben“. Hier in der Fremde ertappe ich mich zwangsläufig dabei wie ich selbst Vorurteile im Kopf und im Herzen trage. Dies zu erkennen ist kein einfacher Prozess da es das eigene Selbstbild, das ich ja so gerne von mir habe, gnadenlos entlarvt und offenlegt. Und trotzdem ist es meiner Meinung nach ein wichtiger Prozess, dass ich mich meinen Vorurteilen stelle und immer wieder überprüfe.

Vielleicht sind es genau diese Vorurteile, die Ich und die meisten anderen auch in sich tragen welche manche davon abhält, Gästen nicht nur eine neue Heimat zu geben, sondern ihnen auch ein Gefühl des Willkommen-seins zu vermitteln. Ich denke oft: im Thema Gastfreundschaft können Ich und viele andere in Deutschland noch einiges lernen.

Michael Heiß